Dr. phil. Hermann Wendt

Der Lebenslauf in Bildern 

"Wir alle erleben unser Leben wie einen Roman. Und ich bin sicher, dass Psychologen, Soziologen und Historiker das auch so sehen. Wenn ein Mensch in der Regel eine Lebenszeit um die 60 Jahre erreicht hat, dann ist mit hoher Wahrscheinlichkeit damit auch dieser Roman zu Ende und übrig bleibt dann nur noch der Epilog. Das Leben ist dann noch nicht vorbei, der Roman, die Lebensgeschichte, aber sehr wohl."

Das Leben als Roman ( Kurt Vonnegut in Deadeye Dick, 1982 )

Eine kurze und einfache Methode, sich selber zu erkennen.

Man nehme 10 – 20 Fotos aus den Alben und Kisten der vergangenen Jahre und Jahrzehnte möglichst gleichmäßig verteilt über die gesamte bisherige Lebensspanne. Dann eröffnet sich einem das eigene Leben wie ein Roman oder auch wie ein Film, in dem man selber die Hauptperson spielt. Es zeigt sich vielleicht sogar ein roter Faden, den man in der Phantasie beliebig weiterspinnen kann. Zu einer Hochrechnung des eigenen Lebens mit Zukunftsbildern sozusagen.

Der Lebenslauf in Bildern heilt. Er kehrt die guten Seiten hervor und glättet das Leben : Ich wurde geboren, ich wuchs auf, ich ging zur Schule, ich machte das Abitur. Ich ging zur Bundeswehr und wurde Soldat. Ich ging zur Uni und wurde Student. Ich erhielt ein Stipendium und ging ins Ausland. Ich arbeitete sechs Jahre in Psychiatrischen Krankenhäusern, acht weitere Jahre an der Universität. Ich machte meinen Doktor, machte mich selbständig in eigener Praxis, gründete ein Institut und schrieb zwei Bücher. Ich heiratete, bekam zwei Kinder und zog mich nach insgesamt 35 Jahren Berufstätigkeit zurück. Ins Privatleben, wie man so schön sagt. Keine Straftaten, keine Schandtaten, keine Heldentaten. Ein ganz normales Leben also. Und das ist gut so. Denn in der Normalität liegt die wahre Schönheit.

Der Lebenslauf in Bildern lügt. Er verschweigt die Schattenseiten dieses Lebens : Die Angst, nicht zu bestehen. Den Kummer über Verluste und Niederlagen. Den Schmerz bei Trennung und Abschied. Die Enttäuschung, nicht verstanden zu werden, und die Verzweiflung der Einsamkeit. Den Kampf um Anerkennung und Liebe. Die Trauer über Verlorenes und Unwiederbringliches. Die Scham für die eigenen Dummheiten und Fehler. Den Schrecken von Unfällen, Krankheiten und Schicksalsschlägen. Der Lebenslauf in Bildern verschweigt die Qualen des Lebens. Und das ist ebenfalls gut so. Denn :

Der Lebenslauf in Bildern lügt und heilt zugleich. Er versöhnt und zeigt :Ich habe gelebt ! Ich habe mich bemüht ! Ich habe versucht, das Beste aus mir und meinem Leben zu machen. Auch das ist normal und deshalb gut so. Mehr muss nicht sein.

Mit Vater in Stockholm/Schweden
Im Geburtsjahr / 1944
Mit Mutter und zwei älteren Geschwistern in Schweden
5 Jahre alt / 1949
Mit Konrad Adenauer zum Wahlsieg in Bonn
9 Jahre alt/ 1953
Als Schüler auf dem Gymnasium in Bonn-Bad Godesberg
13 Jahre alt / 1957
Als James Dean in Bonn, 16 Jahre alt/1960
Als Leutnant bei der Bundeswehr in Koblenz
21 Jahre alt / 1965
Als Student und "Achtundsechziger" in Bonn
24 Jahre alt / 1968
Als Stipendiat des DAAD, Hippie und Doors-Fan in Los Angeles, 29 Jahre alt / 1973.
Als Assistent am Psychologischen Institut der Universität Bonn
33 Jahre alt / 1977
Als Südkalifornier und Surfer in Los Angeles
37 Jahre alt / 1981
Hochzeit in Berlin / 1984
Bei einem TV-Auftritt in Köln
42 Jahre alt / 1986
Als stolzer Vater (Nr.1) in Köln
47 Jahre alt / 1991
Als stolzer Vater (Nr.2) in Berlin
51 Jahre alt / 1995
Mit Familie in Berlin
58 Jahre alt / 2002
Vorher -->
Als Panzergrenadier-Leutnant und Zugführer bei der Bundeswehr
21 Jahre alt / 1965
 
<-- Nachher
Als Ausbildungsleiter am Kölner Lehrinstitut für Verhaltenstherapie - KLVT
59 Jahre alt / 2003
Geburtstagsfeier mit Kollegen in Köln
60 Jahre alt / 2004
Mit Professor Adolf Martin Däumling ("Alf")
zu dessen 90. Geburtstag
63 Jahre alt / 2007
Als Rentner im Rentnerparadies
65 Jahre alt / 2009
Geschafft! Berlin/Köln Ostern 2020
Fortsetzung folgt nicht mehr.

"Es ist immer wieder von irgendjemandem versucht worden, sein eigenes Leben zu beschreiben. Ich halte dieses Unterfangen für unmöglich, wenn auch verständlich. Je älter man wird, desto stärker wird der Wunsch, Bilanz zu ziehen. Der Tod rückt näher, das Leben verflüchtigt sich. Indem es sich verflüchtigt, will man es gestalten. Indem man es gestaltet, verfälscht man es. So kommen die falschen Bilanzen zustande, die wir Lebensbeschreibungen nennen."

(Friedrich Dürrenmatt in Labyrinth, Zürich 1975)

"Was wollen Sie, pflegte er dann zu antworten, die Menschen vergessen. Sie vergessen die Angst, den Schrecken. Sie wollen leben. Das ist ganz einfach. Sie vergessen auch das Wunderbare, sie vergessen auch das Aussergewöhnliche, sogar noch schneller als das Gewöhnliche. Sehen Sie, mein Herr. Am Ende eines Lebens steht der Tod. Wir wissen es alle. Und wer denkt an ihn?"

Ein Gast auf dieser Erde (Joseph Roth in Tarabas, 1926)